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Berichte

Das Nationale, das Internationale und der Mord an Marielle

(Von Eathan Earle, Rosa Luxemburg Stiftung Büro New York)

Am Abend des 14. März, dem zweiten Tag des Weltsozialforums 2018 wurde die 38-jährige Stadträtin und Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco in Rio de Janeiro ermordet. (Mehr dazu hier.) Ich bekam die Nachricht am selben Abend in einem Chat mit einem jungen Aktivisten von Francos Sozialistischer Partei (PSOL). Er war am Boden zerstört. Die PSOL entstand 2004 nachdem Lula die jetzigen Führungsfiguren der PSOL aus der PT warf, weil sie nicht für seine Rentenreform gestimmt hatten. Heute hat sie 120.000 Mitglieder und sechs Sitze im brasilianischen Unterhaus. Sie steht links von der PT und steht zu ihr abwechselnd in einem produktiven und spannungsvollen Verhältnis. Die PSOL hat sich als lautstarke Stimme gegen staatliche Gewalt und Korruption einen Namen gemacht.

Am nächsten Morgen stand das Programm des WSF in Frage. Einige Anhänger der PSOL riefen dazu auf, die Veranstaltungen am Vormittag abzusagen und stattdessen für die Verurteilung der Mörder von Marielle zu demonstrieren. Gleichzeitig plädierten PT-Mitglieder dafür, die für den Abend geplante Kundgebung mit der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff und Lula auszuweiten und in eine Anklage der systematischen Gewalt der moralisch bankrotten und zutiefst undemokratischen Regierung Temer zu verwandeln.

Schlussendlich demonstrierten mehrere Hundert WSF-Teilnehmer mittags, um Gerechtigkeit für Marielle zu fordern, aber das WSF ging im Großen und Ganzen weiter wie geplant. Hervorragende Intellektuelle und Aktivisten aus aller Welt diskutierten eine Reihe von Themen, mit denen wir konfrontiert sind: Klimawandel, Krieg und staatliche Gewalt, systematischer Rassismus und Frauenfeindlichkeit, sozioökonomische Ungleichheit und mehr. Bei der Kundgebung im Stadium am Abend kündigte Dilma die Gründung eines internationalen Solidaritätskomitee für Lula an, der in einem hochpolitisierten Verfahren wegen angeblicher Korruption zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Sie erwähnte auch den Mord an Marielle, er war aber kein Schwerpunkt bei der mehrstündigen Veranstaltung.

Währenddessen gab es an den Ständen auf dem Campus der Universität von Bahia sowohl verschiedene vegane Sandwiches als auch traditionelle Quilombola Küche, handgemachte Traumfänger und massenhaft WSF-T-Shirts, Bücher von Angela Davis und Boaventura de Sousa Santos. Spontankundgebungen für die Rechte von Minderheiten in verschiedenen Weltgegenden wurden abgehalten, während nebenan junge Liebespaare tanzten und Riesenseifenblasen durch die Abendluft schweben ließen.

Die Geschichte des Weltsozialforums begleitet die Debatte, ob das Forum zu sehr von internationalen, kosmopolitischen Teilnehmenden oder eher von nationalen, teilweise anachronistischen politischen Themen dominiert wird. Diese Spannung war auch bei der diesjährigen Auftaktdemo zu spüren.

Anfangs war der Sammelpunkt dominiert bei Weißen, die mit ihren iPhones Fotos von den wenigen Indigenen in traditionellem Outfit schossen. Doch bei der Abschlusskundgebung auf einem Platz, der von einem der steilen Hügel der Stadt über dem sonnenbeschienen Hafen thront, war die Menge durchsetzt mit Samba, Menschen in weißen Baiana de Acarajé-Tracht und „Fora Temer”-Sprechchören. In der ersten Nacht legten WSF-Veteranen abwechselnd schlüssig dar, das diesjährige WSF sei entweder zu europäisch oder zu brasilianisch.

Der politische Mord an Marielle Franco legte diese verschieden Sichtweisen wieder in aller Deutlichkeit offen. Sollte die Podiumsdiskussion über das EU-Mercosur Handelsabkommen für die Demonstration für Marielle verkürzt werden? Was tun mit der Diskussion über Rassismus im Süden Brasiliens? Oder über Solidarität mit Palästina oder über integrative Gemeinschaftstherapie? Keine einfachen Fragen. Vermutlich ist es das Beste anzuerkennen, dass verschiedene Leute sie verschieden beantworten.

Trotz dieser Debatten: Die meisten Linken würden vermutlich zustimmen, dass jedes lebendige Welt-Sozialforum wirklich international sein muss, um seinen Zweck zu erfüllen. Ich hoffe, wir sind uns auch einig, dass jede politische Veranstaltung geerdet sein muss in Raum und Zeit, sonst löst sie sich ab von den arbeitenden Schichten und verfällt in luftige Theorien einer internationalen Revolution. Was ist das richtige alchemistische Rezept, um ein goldenes Weltsozialforum anzurühren? Das ist keine leichte Frage und vermutlich hat niemand eine exakte Antwort.

Hinter diesen Fragen liegt das bedrückende Gefühl, dass das WSF seinen Zenit überschritten hat und niemals zu dem Glanz der frühen Jahre zurückfinden wird. Natürlich wird es das nicht: Nichts wird jemals das sein, was es früher einmal war. Aber das WSF kann weiter bestehen als ein in der Breite und Tiefe unschätzbares Zusammentreffen der internationalen Linken. Ob das gelingt, wird davon abhängen, wie wir reagieren auf die Veränderung des WSF und wie wir umgehen mit der Spannung zwischen seinem nationalen und internationalen Gesicht.

Zweifellos war das diesjährige Forum geprägt vom politischen Kontext in Brasilien, im Besonderen durch den Mord an Marielle und im Allgemeinen von dem Putsch – 21st century-style – der eine PT-Regierung, die bei all ihren Fehlern mehr als 20 Millionen Menschen aus der Armut geholt hat, ersetzt hat durch eine hassenswerten Clique brutaler alter weißer Männer, entschlossen alles erreichte wieder zu zerstören.

Vielleicht noch tragischer ist, dass sich diese Geschichte – natürliche mit lokalen Unterschieden – in vielen Ländern der Welt zu wiederholen scheint. Der neoliberale Konsens, der seit Mitte der 1980er Jahre herrschte, hat eine klaffende Wunde. Jetzt haben rechte autoritäre Populisten und Nationalisten es geschafft, einen Teil des politischen Raums zu erobern, der sich damit geöffnet hat.

Oder anders formuliert: In Brasilien können wir die Welt finden und rund um den Erdball finden wir viel zu viele wie Marielle, die umgebracht werden wegen ihrer politische Überzeugung, dass die Dinge anders laufen könnten. Lasst uns Stärke aus der geteilten Verwundbarkeit ziehen. Lasst uns anerkennen, dass wir uns nicht immer die Bedingungen aussuchen können, unter denen wir kämpfen. Stattdessen sollten wir uns damit beschäftigen, wie wir unsere Kräfte sammeln, um gemeinsam den Temers dieser Welt zu widerstehen.

Genau das möchte ich tun in den letzten zwei Tagen des Forums – und in den Monaten und Jahren die folgen, gemeinsam mit den Menschen, die ich hier in Salvador de Bahia neu kennengelernt bzw. wiedergetroffen habe.

 

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