zur Startseite
Das deutschsprachige Informationsportal
zur weltweiten Sozialforum-Bewegung
zur Startseite zur Startseite
| Aktuell  | Termine  | Links  | Forum  | Feedback  | Newsletter  | Suche: 
 
Schnell-Info
zurück zur Startseite

Berichte

Castells, Manuel: "Das Netz und sein Werk"

(aus: "ZeitLiteratur" Dezember 2001, S. 53-56)

Eine kurze Vorbemerkung zum Autor. Er hat zuletzt Castells, Manuel: "Das Informationszeitalter." leske+budrich Opladen, 2001ff. (engl. "The Information age" 1996 ff.) veröffentlicht. Hier mal ein paar Rezensionsauszüge zu diesem Buch:

"Adam Smith hat erklärt, wie Kapitalismus funktioniert, Karl Marx hat erklärt, warum er nicht funktioniert. Nun sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge des Informationszeitalters von Manuel Castells eingefangen worden." G.P. Zachary, "Wall Street Journal"

"Der überzeugendste Versuch, der je gemacht wurde, die Konturen des globalen Informationszeitalters nachzuzeichnen. " Anthony Giddens, New Statesman (London)

"Dieses Buch ist für jeden geeignet, der im Schatten eines Monitors lebt und arbeitet. Es hilft uns, die heutige globale Informationswirtschaft zu verstehen - und unseren Platz darin." Steve McGookin, Financial Times

"Bislang ist der, der die Welt der soziologischen Theorie und Silicon Valley am erfolgreichsten bezwungen hat Manuel Castells. Castells erfreut sich einer wachsenden Aufmerksamkeit als der erste bedeutende Philosoph des Cyberspace. " The Economist

"Dieses Buch setzt ein Zeichen. Es wird die Hauptreferenzquelle für jene sein, die versuchen zu verstehen, wohin wir uns entwickeln. " Roger-Pol Droit, Le Monde (Paris)
_______________________________________________________________________

Ein Gespräch mit dem Soziologen Manuel Castells über terroristische und zivile Netzwerke, über Identität und Politik. Der erste Teil seines dreibändigen "Informationszeitalters" ist nun auf Deutsch erschienen
Von Thomas Assheuer und Elisabeth von Thadden

die zeit: Haben Sie in Ihren Studien über die internationale Netzwerkgesellschaft die Terroranschläge vom 11. September vorhergesehen?

Manuel Castells: Ich mache nie Vorhersagen. Niemals, und ich mache dem Weltlauf auch keine Vorschriften. Ich bin Analytiker und Forscher. Ich habe den 11. September also nicht vorhergesehen. Aber meine analytischen Werkzeuge setzen an der Beobachtung an, dass die globalisierte Netzwerkgesellschaft zugleich der Ursprung des Widerstands ist, der sich gegen sie richtet. [...]

zeit: Viele behaupten aber, der Terrorkrieg sei kein Konflikt zwischen Arm und Reich, Ausgeschlossenen und Gewinnern. Der Islam trage vielmehr seine ureigene Krise aus, die mit dem Westen nichts zu tun habe. Er habe halt den Anschluss an die Moderne verpasst, vor allem die Säkularisierung und Selbstaufklärung.

Castells: Einerseits stimmt das. Die Ausgeschlossenen organisieren sich in anderen Antiglobalisierungsbewegungen, wie zum Beispiel den Zapatistas in Mexiko. Ein Teil dieser Bewegung kommt aus der Zweiten Welt; ihre Protestenergien fließen nicht nur in den Kampf für soziale Rechte und die Rechte der Armen, sondern auch in den Kampf für Rechte von Minderheiten. Da geht es auch um den Widerstreit von nationaler Identität und westlichem Imperialismus. Aber man darf nicht vergessen, dass die terroristischen Netzwerke nicht nur in der islamischen Welt bestehen. Es gibt Beweise dafür, dass unterschiedliche terroristische Netzwerke mit ganz verschiedenen Zielen durchaus zusammenarbeiten. So hat etwa die Drogenmafia kein Interesse an der Zerstörung des Kapitalismus, in den sie viel Geld investiert hat. Und beim Verkauf von Waffen, falschen Papieren oder bei der Weiterverarbeitung des Opiums der Taliban kooperieren sie untereinander. Was ich sagen will: Es bestand schon lange ein eng verflochtenes Unterweltnsetzwerk, aber im Fall der islamischen Fundamentalisten wurde daraus eine sozio-politische Identitätsbewegung. Im Zentrum steht die Frage nach Gott, der Rest - Terrorismus, Mafia, Geldwäsche et cetera - ist nur das Werkzeug, um die angeblich "jüdische" Zivilisation zu bekämpfen.

zeit: Al-Quaida und die Taliban sind also Teil des kapitalistischen Netzwerks, das sie bekämpfen?

Castells: Absolut richtig. Netzwerke sind multidimensional, es gibt Netzwerke des Geldes, der Information, der sozialen Bewegungen und noch viele mehr. Auf der einen Seite umfasst die Netzwerkgesellschaft den Kapitalismus, die demokratischen Institutionen unserer Welt, die internationale Produktion, die Medien, die Firmen - alle sind im Netz organisiert. Jeder, der etwas bewirken will, muss die Infrastruktur unserer globalen Informationsgesellschaft nutzen. Das heißt: Auch die Kampfansagen an unsere Gesellschaft, gegen ihre vorherrschenden Werte und Interessen, müssen mit diesen Instrumenten ausgeführt werden. Mag auch das Organisationsprinzip ein anderes sein, so ist doch die materielle Infrastruktur dieselbe. Alle nutzen denselben Apparat, jeder "für einen guten Zweck". Die Fundamentalisten stellen sozusagen das göttliche Prinzip ins Internet, wollen aber keine Diskussion auslösen. Sie benutzen das Internet nur als eine Art Plakatwand. Im Übrigen stimmt es ja gar nicht, dass die Taliban kein Internet benutzten. Sie benutzten es nur nicht in Afghanistan, das heißt, das afghanische Volk hatte keinen Zugang zum Internet.
[...]
zeit: Im Netz kann sich jeder individuell ausdrücken, zugleich wird es für die Artikulation kollektiver Werte benutzt.

Castells: Sie beschreiben exakt die Komplexität des Gegenstandes. Das Netz beinhaltet gleichzeitig individuelle und kollektive Werte. In der Wirtschaft zum Beispiel gibt es auf der einen Seite die individuellen und spezifischen Ziele bestimmter Firmen; zugleich gibt es die kollektiven Werte des globalen Kapitalmarktes, der von niemandem kontrolliert wird. Lehnen sich Menschen gegen dieses System auf, müssen sie die Gesellschaft gewissermaßen neu programmieren; sie müssen andere Netzwerke mit Alternativprogrammen entwickeln und in das Netzwerk einbetten. Globale Finanznetzwerke wollen natürlich die Kapitalzinsen maximieren. Ihre Gegner wiederum bilden Netzwerke, die Gottes Ruhm maximieren, und auch sie versuchen, die globalen Finanznetzwerke unter ihre Kontrolle zu bringen. Das Geld wird also benutzt, um Gottes Willen auszuführen.

zeit: Auch die Umweltbewegung nutzt das System, um es ökologisch umzuprogrammieren.

Castells: Auch diese Gegner des Systems sind beweglicher als seine traditionellen Repräsentanten. Die Antiglobalisierungsbewegung ist viel handlungsfähiger. Sie macht Medienpolitik. Treffen sich die Mächtigen der Welt an einem Ort, so treffen sich ihre Kritiker ebenfalls dort und programmieren die Medien neu, um eine andere Botschaft unter die Leute zu bringen. Damit ändern sie den Code in den Köpfen der Menschen. Das ist moderne Politik. Ich nenne das reale Virtualität. Die effektivste Organisation in dieser Hinsicht ist Greenpeace.

zeit: Was unterscheidet terroristische Netze etwa von Greenpeace?

Castells: Die Antiglobalisierungsbewegung kämpft für die Freiheit und eine globale Zivilgesellschaft. Sie soll ein Gegengewicht zu den bestehenden Netzwerken von Reichtum, Macht und Information schaffen. Das bislang sehr einseitige Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Weltwirtschaft soll ausbalanciert werden. Alle diese Bewegungen wollen außerdem Diversifizierung - jeder soll eine Stimme und ein Mitspracherecht haben. Dagegen ist religiöser Fundamentalismus definiert als "Gott sagt". Und es ist gefährlich, wenn man Gegenteiliges sagt.

zeit: Sind politische Apparate im Vergleich zum Netz einfach - konservativ?

Castells: Staatsapparat, Militär, Geheimdienst und Polizei basieren auf Prinzipien, die den heutigen Anforderungen des Netzwerks fast diametral entgegenstehen. Nur die Wirtschaft weiß genau, was gefordert wird, ebenso die Medien und die Antigslobalisierungsbewegung - und eben auch die Terroristen. Die jungen Leute mit ihren SMS-Nachrichten wissen es auch genau. Nur die großen politischen Parteien wissen nichts von den Forderungen des Tages. In dem Moment, wo Sicherheit das überragende Anliegen ist, will die Politik gesellschaftliche Probleme durch die Sicherheitssysteme lösen. Aber diese Systeme sind viel zu starr. So gibt es eine unheilige Allianz zwischen der Inflexibilität unserer Gesellschaft und der Starrheit von Bürokratien. In der heutigen Situation könnte das dramatische Auswirkungen haben. Die Regierungen werden mit Brutalität regieren und demokratische Freiheiten beschneiden. Derzeit werden in den USA über 1000 Menschen ohne Verfahren, ohne Anklage, ohne juristischen Beistand gefangen gehalten. Einfach so. Auf unbestimmte Zeit. Ohne gesetzliche Grundlage.

zeit: Und der Unterschied zu unseren politischen Parteien?

Castells: Die denken, das Netz sei dafür da, Informationen für die Bürger zur Verfügung zu stellen. Wenn in England Bürger ihrem MP eine Mail schicken, erhalten sie eine Standard-Mail, in der steht: "Wir werden Ihnen in einer Woche per Brief antworten"! Dabei geht es im Netz um Interaktivität!

zeit: Warum ist die Politik so unfähig, das Netz richtig zu nutzen, obwohl es doch in ihrem Interesse wäre?

Castells: Zunächst einmal befinden sich weltweit alle politischen Institutionen und Parteien in einer tiefen Krise: in der Krise der Legitimität. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen nur die skandinavischen Demokratien dar. Im vergangenen Jahr hat Kofi Annan der Uno eine öffentliche Umfrage unter repräsentativen Bürgern aus aller Welt vorgestellt, eine der größten politischen Meinungsumfragen, die je gemacht wurden. Demnach glauben zwei Drittel der Bürger nicht, dass ihr Wille von ihrer Regierung vertreten wird. In Amerika sind 62 Prozent dieser Meinung. 70 Prozent glauben, Interessengruppen seien mächtiger als irgendjemand in der Regierung. In Kalifornien sind 39 Prozent der Bürger davon überzeugt, in den hohen Regierungsstellen säßen Gauner. Das heißt, Politiker stehen im Ansehen überall an letzter Stelle. In Italien rangierten sie noch hinter Prostituierten und der Mafia, weil die Leute meinten, bei denen wisse man jedenfalls, was sie täten. Man muss die Krise der politischen Legitimität ernst nehmen.

zeit: Ist auch dies eine Folge der Netzwerkgesellschaft?

Castells: Das wäre zu einfach. Die Krise der Legitimität entsteht aus einer Kombination von strukturellen und technologischen Problemen. Das strukturelle Problem ist, dass die Ursachen technologischen und wirtschaftlichen Wandels global sind. Das heißt, die Regierungen müssen sich schnell umbilden und neu orientieren, um diesen Entwicklungen überhaupt folgen zu können. Doch je verzweifelter sie versuchen, auf globaler Ebene handlungsfähig zu bleiben, desto weniger können sie sich um die lokalen Belange der Bürger kümmern. Die Effektivität der Regierungen nimmt also ab. Denken Sie nur an Ihre eigene Regierung. Welche Spielräume hat sie überhaupt noch? Wie soll sie im Wirtschaftsbereich effektiv handeln - mit den globalen Finanzmärkten, einer europäischen Zentralbank und einer europäischen Währung im Nacken?

zeit: Welche Rolle spielen die Medien für die Legitimitätskrise der Politik?

Castells: Politiker gewinnen oder verlieren Wahlen in den Medien und durch die Medien. Denn was ist die effektivste Botschaft in den Medien? Das ist eine negative Botschaft, keine positive. Nur schlechte Nachrichten sind Nachrichten. Medienpolitik führt systematisch zu einer Politik durch Skandalisierung.

zeit: Wird die Politik von den Medien beherrscht?

Castells: Nein, die Medien sind durchaus neutral. Andernfalls würden Sie an Glaubwürdigkeit verlieren und damit auch Marktanteile. Die Medien drücken die Vielzahl der Konflikte aus, die in unserer Gesellschaft gären. Aber es gibt eine starke Personalisierung von Sachfragen. Die Botschaft ist immer die Person, und wenn man die Kandidaten beschädigt, dann ist das absolut gefährlich für die politische Partei. Deshalb zerstört eine selbstbezügliche Medienpolitik, die ohne irgendeine Verbindung zu den Quellen der Demokratie steht, auf lange Sicht das repräsentative politische System.

zeit: Wenn es nicht die Medien sind: Hält die Wirtschaft die Politik im Würgegriff?

Castells: Absolut nicht. Das ein Mythos. Das Problem liegt nicht so sehr darin, dass die ökonomische Macht das politische System übernommen hat, sondern dass das politische System immer weniger in der Lage ist, in der Wirtschaft zu intervenieren. Das ist etwas ganz anderes. Nun sind wir in einer Situation, wo wir Eingriffe in die Wirtschaft brauchen.

zeit: Trotzdem: Verlieren nationalstaatliche Regierungen nicht zunehmend an Autonomie? Werden sie irrelevant?

Castells: Nein, sie sind nur in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt. Eine Regierung ist nicht nur die Regierung ihrer Bürger, sondern gleichzeitig Mitglied eines hoch komplizierten Netzwerks. Doch auf globaler Ebene gibt es keine politischen Institutionen. Die Globalisierung existiert zwar in der Wirtschaft, in der Technologie, in den Medien und der Geopolitik - aber institutionell existiert sie nicht. Darauf hat der Soziologe Ulrich Beck in eindringlichen Studien hingewiesen und den Aufbau von globalen Regierungsinstitutionen gefordert.

zeit: Welche supranationalen Institutionen brauchen wir denn?

Castells: Denken Sie dran: Ich mache nie Vorhersagen. Wir haben so viele kompetente Politiker, und wir bezahlen sie. Sie sollten was tun und die Antwort herausfinden. Aber das Problem ist: Sobald Sie fordern, dass politische System solle sich regenerieren, die Wüste soll sich wiederbeleben - in dem Augenblick berühren Sie sofort die Trägheit des ganzen Systems. Jede Regeneration berührt persönliche Interessen. Sie verlangen von den Mitgliedern, dass sie genau das System verändern sollen, das ihnen die Macht verleiht. Deshalb sollten wir einen Club der pensionierten Politiker einrichten, die den Menschen die Wahrheit sagen und endlich Reformen vorschlagen. [...]

(www.zeit.de)


« zurück zur Übersicht