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Berichte

Rucht, Dieter: "Zwischen Strukturlosigkeit und Strategiefähigkeit. Herausforderungen für die globalisierungskritischen Bewegungen"

in "E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit (Nr. 12, Dezember 2001, S. 358-360)"

Seattle, Prag, Göteborg und Genua markieren Stationen nationaler und internationaler Protestbewegungen, die von den Massenmedien ebenso häufig wie irreführend als Anti-GlobalisierungsBewegung bezeichnet werden. Deren öffentliche Auftritte finden vor allem anlässlich der Gipfeltreffen internationaler Organisationen statt, die die Globalisierungskritiker zu nutzen scheinen, um in das Scheinwerferlicht der Medien zu gelangen. Woher kommen diese Protestgruppen? Was hält sie zusammen? Handelt es sich um eine neue soziale Bewegung? Vor welchen Herausforderungen stehen sie? Diesen Fragen geht Dieter Rucht in Form von acht Thesen mit jeweils knappen Erläuterungen nach.

[...]

6. Die Bewegungen, wollen sie sich stabilisieren und wachsen, stehen vor Klärungsprozessen und Entscheidungen, möglicherweise auch Zerreißproben. Eine davon betrifft das ideologische Profil

Der Bogen von linksradikalen Antikapitalisten, moderaten Kapitalismuskritikern, Vertretern eines "Dritten Weges" und unpolitischen, rein humanitär orientierten Aktivisten erweist sich in der derzeitigen Phase des Aufschwungs und der reaktiven Mobilisierungen in Gestalt einer Negativkoalition als durchaus tragfähig. Aber dieser Bogen zerbricht, sobald im Zuge von Organisations- und Strategiefragen auch politisch-ideologische Deutungsmuster verlangt sind, die langfristig einzuschlagende Richtungen begründen können. Die Kräfte, die eine radikale, im Grunde revolutionäre Umgestaltung der Weltwirtschaftsordnung fordern, werden sich zwangsläufig von jenen trennen, die diese Ordnung im Prinzip anerkennen und lediglich bestimmte Folgeprobleme lindern wollen.

Dieser insgesamt, aber auch für eine einzelne Gruppierung wie attac anstehende Klärungsprozess kann durch Formelkompromisse hinausgezögert, aber letztlich nicht vermieden werden. Die teilweise bereits erkennbaren Denk- und Lernprozesse der Regierungen (s. den "Offenen Brief an die Globalisierungsgegner" des belgischen Ministerpräsidenten und derzeitigen EU-Ratsvorsitzenden Guy Verhofstadt vom September 2001), ihre teils symbolischen, in Ansätzen auch materiellen Zugeständnisse an ihre Kritiker werden die weitgehend latenten Widersprüche in den Protestgruppen bloßlegen.

 

7. Die globalisierungskritische Bewegung wird verbindlichere Organisationsstrukturen entwickeln müssen, um handlungsfähig zu bleiben. Hierbei ergeben sich Spannungen zwischen den Erfordernissen interner demokratischer Kontrolle und nach außen gerichteter Strategiefähigkeit

Die Geschichte sozialer Bewegungen zeigt, dass diese keineswegs immer mit einer Phase organisatorischer und programmatischer Diffusität beginnen, um allmählich festere Gestalt anzunehmen und schließlich in verkrusteten Strukturen zu enden, wie es seit Robert Michels immer wieder behauptet wird. Allerdings stehen Bewegungen vor zwei Mindestanforderungen.

Zum Einen müssen sie eine kollektive Identität entwickeln, um ihren inneren Zusammenhalt zu wahren. Bleibt der ideologische und programmatische Nenner zu diffus, so zerfasert die Bewegung. Sie wird richtungslos, zersplittert oder versandet. Wird andererseits dieser Nenner zu scharf konturiert und zudem für sakrosankt erklärt, so verkommt die Bewegung zu einer Sekte, die sich von der Außenwelt abschottet.

Zum Zweiten müssen Bewegungen bestimmte Organisationsformen entwickeln, um in ihren internen Prozessen und ihren nach außen gerichteten Interventionen handlungsfähig zu bleiben. Dabei gilt es die Balance zwischen zwei Polen zu halten: Einerseits droht das Übel, das Jo Freeman, eine US-amerikanische Feministin, die "Tyrannei der Strukturlosigkeit" genannt hat. Informelle Hierarchien, Filz und Willkür ersetzen explizite Zuständigkeiten und regelgebundene Entscheidungsverfahren. Werden andererseits formale Mechanismen zu stark betont, so droht die Vereinsmeierei, bei der Organisationspatriotismus und Satzungsfragen das Handeln bestimmen. Im Falle von sich demokratisch verstehenden Bewegungen kommt noch das Erfordernis hinzu, eine dominante Willensbildung von unten nach oben zu gewährleisten und interne Minderheiten nicht durch Formalismen oder ein Führerprinzip auszuschalten.

Die Strukturarmut von attac als ein Merkmal, das dem Aufschwung der Gruppierung bisher eher förderlich war, wird nicht von Dauer sein können. Ebenso wird attac sich den Fragen einer internen demokratischen Kontrolle und der Repräsentation seiner Mitglieder stellen müssen. Welches Gewicht soll etwa den derzeit 2000 Einzelmitgliedern von attac zukommen angesichts des Sachverhalts, dass die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit ihren Millionen von Mitgliedern ebenfalls attac angehört

8. Je nach Art der Anforderung kann in mancher Beziehung für die globalisierungskritischen Gruppen Eindeutigkeit, in anderer Hinsicht aber auch Uneindeutigkeit, das Aushalten von Spannungen, eine angemessene Reaktion bilden

Spätestens seit Göteborg und Genua wird die Stellungnahme zur Gewaltfrage zumindest für jene Gruppen unabweisbar, die für ihr Handeln namentlich einstehen und um öffentliche Zustimmung ringen. Die Antwort, bezogen auf Protesthandlungen in demokratischen Gesellschaften, kann allein ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit sein. Dies schließt allerdings einen an strenge Selbstbindungen geknüpften zivilen Ungehorsam nicht aus.

Andere Herausforderungen dagegen verlangen differenzierte, oftmals kontextabhängige Antworten, deren Qualität sich gerade nicht an einem prinzipiellen Entweder/Oder bemisst. Je nach Lage der Dinge können Bewegungen durchaus zwischen Radikalismus und Kompromissbereitschaft pendeln, auf quantitative oder qualitative Mobilisierung setzen, wobei Erstere die Kraft der schieren Masse betont, während Letztere den Beteiligten Opfer oder Risiken abverlangt, zu denen nur wenige bereit sein werden. Auch müssen sich einzelne Bewegungsorganisationen weder dauerhaft auf ein enges Feld spezialisieren noch sich als thematisch allzuständig verstehen. Kooperationsangebote der etablierten Politik sind weder prinzipiell als "Kooptationsfalle" abzulehnen, noch sollte der Erfolg einer Bewegung daran gemessen werden, ob ihre Vertreter an den Konferenztischen sitzen dürfen. Bewegungen können sich der Frage nach konstruktiven Lösungen stellen, ohne deshalb die gewählten Politiker aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Die Kunst der globalisierungskritischen Bewegungen wird in diesen Fragen darin bestehen, prekäre Balancen zu wahren.

(komplette Fassung: http://www.dse.de/zeitschr/ez1201-6.htm)


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