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Pressespiegel

Volksstimme

 

Volksstimme (Wien), 23.1.2003
Auf der Suche nach einer Strategie

von GERHARD DILGER

Das 3. World Social Forum in Porto Alegre soll die inhaltliche Zuspitzung sowie strategische Überlegungen für eine alternative Politik vorantreiben. Unterdessen gerät einer der Stars der Bewegung, Brasiliens Präsident Lula, in die Kritik.

Der Haussegen hängt ein wenig schief beim Weltsozialforum in Porto Alegre, zu dem 100.000 Menschen erwartet werden. Schuld ist ausgerechnet der große Hoffnungsträger der Linken, Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Seine Ankündigung, in diesem Jahr nicht nur zum Weltsozialforum zu kommen, sondern anschließend auch nach Davos zum WEF zu fahren, stößt hier auf blankes Unverständnis. "Es ist sein erster großer Fehler", schimpft Emir Sader, einer der Vordenker der brasilianischen Linken und Mitglied des Internationalen WSF-Rates. "Lula stellt sich damit auf die andere Seite der Barrikade und belebt den Leichnam Davos aus Neue." Den Einwand, der seit dem Neujahrstag amtierende Präsident sei ja gerade als großer Vermittler mit einem moderaten Diskurs erfolgreich gewesen, lässt der Soziologe aus Rio nicht gelten: "In Davos geht es ja nicht um echte Verhandlungen, sondern vor allem um Symbole - und gegenüber Porto Alegre war diese auch in der Schweiz verhasste Veranstaltung klar ins Hintertreffen geraten." Außerdem habe Lula ja auch Einladungen aus London und Madrid vorerst ausgeschlagen.

Protest nach gelungenem Start

Daher wird Lula am Freitag zum ersten Mal mit Protesten rechnen müssen - und das ausgerechnet auf dem WSF, wo er 2001 und 2002 einer der umjubelten Stars war. Dabei darf sein Regierungsstart durchaus als gelungen betrachtet werden, gerade unter dem Aspekt symbolischer Politik, denn der träge Regierungsapparat kommt gerade erst in Gang und das Parlament ist noch in der Sommerpause. Der Kampf gegen den Hunger prägte Lulas Antrittsrede und einen zweitägigen Ausflug in den armen Nordosten, den er zur Pflichtveranstaltung für sein Kabinett deklariert hatte. Die geschickt lancierte Nachricht, dass er deswegen den Kauf von zwölf Kampfjets zurückstellt, ging um die Welt. Und dass er am Sparkurs seines Vorgängers Cardoso festhalten würde, war keine wirkliche Überraschung.

In der Außenpolitik hingegen sind die Spielräume größer. Hier setzt Lula neue Akzente, die bei der Linken ankommen - und in Washington bereits zu erstem Unmut geführt haben. Auf seine Initiative hin versucht nun eine "Gruppe von Freunden" eine weitere Eskalation in Venezuela zu vermeiden. Gegen den Willen von Hugo Chávez, mit dem er in drei Wochen drei Mal zusammenkam, sind in der Sechsergruppe zwar die USA und Spanien vertreten, nicht aber Frankreich, Russland oder China. Trotzdem stört sich vor allem Venezuelas reaktionäre Opposition an der "Einmischung" Lulas. Mit seinem argentinischen Kollegen Eduardo Duhalde will Lula zudem den siechenden Mercosur, bisher ein reines Wirtschaftsbündnis, "wiederaufbauen" und zusätzlich um soziale und politische Elemente wie ein gemeinsames Parlament erweitern. Damit wird eine gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA, so wie sie nach dem Willen Washingtons ab 2005 installiert werden sollte, immer unwahrscheinlicher. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Nominierung des profilierten ALCA-Kritikers Samuel Pinheiro Guimarães zur Nummer Zwei im Außenministerium. Und damit liegt Lula wieder nahe an der Linie der GlobalisierungskritikerInnen aus Nord- und Lateinamerika - Ablehnung der ALCA mit seinen GATS-ähnlichen Bestimmungen zur Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen gehört in Porto Alegre zu den Dauerbrennern.

Reform und Antikapitalismus

Entsprechend diplomatisch äußerte sich João Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST: "Als Aktivist" sei er gegen die Reise Lulas nach Davos, doch selbstverständlich habe der Präsident das Recht, das zu tun, was er "im nationalen Interesse für wichtig hält". Mit dieser Aussage bringt er zugleich die für das Weltsozialforum charakteristische Toleranz auf den Punkt: Soziale Bewegungen antikapitalistischen Zuschnitts wie die im Dachverband Vía Campesina vereinten Kleinbauernverbände sehen reformistische Kräfte wie die brasilianische Arbeiterpartei PT durchaus als Bündnispartner.

Ein Agieren im nationalstaatlichen Bezugsrahmen bei gleichzeitigem Internationalismus ist für diese Kräfte kein Widerspruch, ebensowenig wie für GewerkschafterInnen aus Südkorea, Südafrika, Brasilien oder den USA oder einflussreiche ATTAC-Ideologen aus Frankreich. Für den "Empire"-Koautor Michael Hardt ziehen diese Kräfte in Porto Alegre die größte Aufmerksamkeit auf sich, doch gleichzeitig verträten die meisten TeilnehmerInnen aus NGOs und einer Vielzahl von Netzwerken, eben die "überbordende, exzessive und nicht greifbare 'multitude', die zukunftsweisende "Perspektive einer nicht-nationalen alternativen Globalisierung" - und letzterem gehört Hardts ganze Sympathie.

Der Wahlsieg Lulas in Brasilien zeigt allerdings, dass es sinnlos ist, diese beiden Haupttendenzen gegeneinander auszuspielen. Als "einzigartiger Treffpunkt antisystemischer Kräfte" (Emir Sader) bezieht Porto Alegre seine Stärke ja gerade aus dem Zusammenspiel von Linken und der NGO-Szene. Jetzt soll jedoch auch die inhaltliche Zuspitzung weiter vorangetrieben werden: Für Emir Sader geht es darum, in dieser Woche auf der Sitzung des obersten Gremiums des WSF, dem Internationalen Rat, das brasilianische Organisationskomitee durch eine für ein Jahr gewählte internationale Koordination abzulösen. Das noch aus der Gründerzeit stammende Organisationskomitee, in dem sechs NGOs die Mehrheit bilden, habe sich überlebt und sei zudem nicht demokratisch legitimiert, meint Sader. Schlimmer noch: Es habe Beschlüsse des Rates ignoriert und behindere die politisch erforderliche "Politisierung", vor allem im Hinblick auf das kommende Treffen der Welthandelsorganisation WTO im mexikanischen Cancún. Bisher sei es der Bewegung für eine andere Welt nämlich nicht gelungen, ihre Stärken "in politische Kraft umzusetzen, durch die die herrschende neoliberale Politik effektiv behindert werden kann" - Lula hin oder her. "Wir haben noch keine Strategie für eine alternative Politik", stellt Emir Sader nüchtern fest.