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Berichte

Niederlagen schwierig zu verdauen

Die Dimensionen waren gigantisch, die Verhältnisse prekär. So lässt sich das 5. Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre zusammenfassen. Über 125.000 Teilnehmer, über 5.700 zivilgesellschaftliche Organisationen, Parteien, Vereine und Gruppen trafen sich auf dem riesigen Areal am Ufer des völlig verschmutzten Guaiba-Sees. Seit dem ersten Treffen im Jahr 2001 geht es, laut damaligem Abschlussdokument, um die Erarbeitung von "Alternativen zur inhumanen, neoliberalen Weltordnung", deren neueste Errungenschaften jedes Jahr auf dem Weltwirtschaftsgipfel gleichzeitig in Davos diskutiert werden.

(von Lennart Laberenz, Wiener Zeitung)

Darüber hinaus ist das Sozialforum allerdings auch zum Happening geworden,  neben einem riesigen Zeltlager mit eingebautem Woodstock-Gefühl blühte der Kommerz: Die Halbliterflasche Wasser wurde zum dreifachen Ladenpreis verkauft, das Essen war zudem schlecht und am Eingang der Zeltstadt warben Ölkonzerne und Finanzinstitute um Kunden. Die Szenerie versammelte unter dem altbekannten Motto "Eine andere Welt ist möglich" allerlei Züge einer Art politischen Karnevals: Porto Alegre erlebte zum vierten Mal ein Potpourri aus hoffnungsvoller Netzwerkarbeit, politischer Folklore, fröhlicher Revolutionsromantik und der vermutlich weltweit höchsten Dichte von Che-Guevara-Verkaufsständen. "Wir müssen aufpassen, dass das Weltsozialforum nicht zur Weltsozialmesse degeneriert," mahnt Ignacio Ramonet, Herausgeber der "Le Monde Diplomatique" und einer der Initiatoren des Forums.
Tatsächlich zeigte sich die Organisation vom Zustrom der Besucher völlig überfordert - den improvisierten Duschen ging oft genug das Wasser aus, Diebstahl und bewaffneter Raub blieben auch im Lager nicht aus, zwei Frauen wurden gar vergewaltigt. Darüber hinaus fehlte es an Infrastruktur für die informellen Treffen, den leisen Austausch von Erfahrungen und das "Flicken an den Netzwerken für eine politische Gegenmacht", das nach Immanuel Wallerstein die Kraft des Treffens immer wieder ausmacht.

Schlechte Organisation

Die Organisatoren hatten nicht einmal kollektiv nutzbare Kücheneinrichtungen ermöglicht, ein Umstand, der die Selbstversorgung vieler mittelloser Teilnehmer erschwerte. Deshalb bekam das "lebenswichtige Treffen für globale politische Kultur", wie die politische Analystin Hillary Wainwright das Sozialforum nennt, einen faden Beigeschmack.
In diesem Jahr hatten sich auch die politische Darstellungsformen gewandelt: Während 2003 explizite Großveranstaltungen hervorgehobene Autoritäten der lateinamerikanischen und internationalen Globalisierungskritik, von Eduardo Galeano bis Naomi Klein, feierten, fuhren die Organisatoren in diesem Jahr den Pomp zurück - alle Veranstaltungen fanden in weißen Plastikzelten unter ähnlichen Bedingungen statt, wenn sie denn stattfanden.
Die Präsentationsform kann als Ausdruck von Bescheidenheit verstanden werden, das Sozialforum fand in diesem Jahr mit erheblichen Verdauungsproblemen politischer Niederlagen statt: Die vor zwei Jahren enthusiastisch gefeierte politische Achse der Präsidenten Luis Ignacio "Lula" da Silva (Brasilien), Néstor Kirchner (Argentinien) und Hugo Chávez (Venezuela) funktionierte kaum, die drei Staatsoberhäupter spucken sich mit Genuss und völlig verschiedenen Vorstellungen von Wirtschafts- und Sozialpolitik gegenseitig auf den Anzug.

Kritik an Néstor Kirchner

Die Kritik der lateinamerikanischen Ausgabe der "Le Monde Diplomatique" am argentinischen Präsidenten ist harsch: "Anstatt sich auf den formidablen Atemzug der Erneuerung, den die Gesellschaft ausstieß, zu stützen, gibt Néstor Kirchner immer deutlicher Anzeichen, dass er sich mit dem Establishment zusammentut." Diese Sichtweise wird in Brasilien auch auf den eigenen Präsidenten übertragen. Insgesamt hatte sich der "politische Messias", als der Lula vor zwei Jahren auf dem Sozialforum noch behandelt wurde, als irrlichternder Prophet herausgestellt. Der Vorwurf, ein politisches Projekt nicht weit von seinem neoliberalen Vorgänger Enrique Cardoso entfernt anzusetzen, war Mehrheitsmeinung in Porto Alegre. Insbesondere bei der Armuts- und Korruptionsbekämpfung und bei Alternativen zur herrschenden Wirtschaftspolitik sei Lula gescheitert.

Als Hoffnungsfigur bleibt aus der Trias zuletzt Chávez übrig, dessen politisches Projekt sich ebenfalls gegen Vorwürfe des Populismus zu verteidigen hat. Es war allerdings Chávez, der in einer stundenlangen Ansprache einer begeisterten Masse mit einfachen Begriffen das Herz wärmte und den Geist des Süden beschwor: "Lula ist wie mein Bruder, zusammen werden wir den lateinamerikanischen Traum verwirklichen."

In den vergangenen Jahren hatte das "jährlich wichtigste politische Ereignis" (Chávez) zudem ein eindeutigeres Projekt und eine genauere Anschrift für seinen politischen Zorn: Doch gerade der Lieblingsfeind der versammelten Linken schlug in den letzten beiden Jahren dem Sozialforum kräftige Haken. Die USA marschierten trotz weltweiter Proteste in den Irak ein und wählten ihren Kriegspräsidenten wieder. Zudem scheint keines der wirtschaftspolitischen Projekte, die die USA gemeinsam mit der EU und Japan sorgfältig orchestrieren, ernsthaft gefährdet. Zwar deutete Chávez zum Vergnügen der Zuhörer an, dass das Jahr 2005 angebrochen sei, "ohne dass das Freihandelsabkommen aller amerikanischer Länder etabliert ist," eine andere Welt sieht freilich anders aus als der Status Quo. Wenn das Sozialforum im nächsten Jahr dezentral durchgeführt wird, bleibt zu hoffen, dass unter dem Strich wieder härter an der Konstruktion der Gegenwelt und weniger am Mythos geschnitzt wird.

 

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