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NEUE KLäNGE, NEUE FORMEN

Das Weltgewissen als Supermacht - Von Porto Alegre geht ein Prozess der Improvisation aus, den niemand vorhersehen und schon gar nicht orchestrieren kann

(von Hilary Wainwright, freitag)

Mit einem schwingenden Jazzstück oder mit einem Bild, das aus jeder Perspektive anders aussieht, ließe sich das Weltsozialforum vergleichen. Welchen Sinn wir darin erkennen und was es uns bedeutet, hängt von unseren Auffassungen ab. Ich habe an den ersten drei Foren in Porto Alegre als jemand teilgenommen, der aus den "neuen" Bewegungen der späten sechziger Jahre kommt, aus der Studentenbewegung, der Friedensbewegung, besonders der Frauenbewegung. Ich bin 55 Jahre alt und schnell dabei, wenn es gilt, sich mit den nunmehr wirklich neuen Bewegungen für globale Gerechtigkeit zu identifizieren. Ihre informellen Umgangsformen sind mir ebenso vertraut wie ihre Ziele.

Sogar Sprecher der globalen Eliten verstehen, dass ein neues Subjekt für soziale Veränderung entstanden ist. Vor zwei Jahren, als die Positionen in der UNO sich gerade gegen die Pläne der USA für einen Präventivkrieg gegen den Irak zu festigen begannen, bemerkte Kofi Annans Pressesekretär, dass wir nun zwei Supermächte hätten: die USA und die Weltöffentlichkeit. Bis Februar 2003 - und am dramatischsten am 15. Februar, dem Tag weltweiter Anti-Kriegs-Demonstrationen - wurde klar, dass die öffentliche Meinung eine unabhängige - bis zu einem gewissen Grade - auch eine organisierte Kraft geworden war.

Aber am Ende stoppte selbst die große Zahl der Demonstranten nicht die fatalen Entscheidungen. Eine überwältigende Mehrheit der Weltöffentlichkeit lehnte den Krieg ab - trotzdem wurde er geführt. Diese Erfahrung muss reflektiert werden. Was ist das für eine Demokratie, die wir vom Kalten Krieg geerbt haben? Wie kann sie erweitert werden, damit die Eliten nicht mehr den Mehrheitswillen ins Gegenteil verkehren können? Diese Fragen sind wichtig für das Weltsozialforum und für die Weltöffentlichkeit, damit sie sich selbst und ihre Rolle versteht.

Als am Morgen des 15. Februar 2003 Millionen Menschen aufstanden, um vielfach zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße zu gehen, glaubten viele, dass sie nur die Politiker auf die Stärke des Missmuts, der sich gegen ihre Politik aufgebaut hatte, aufmerksam machen müssten. Das, so dachten sie, würde genügen, um die Regierung zu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Nach dem 15. Februar und der im Irak täglich erkennbaren Bestätigung der Argumente derer, die protestiert hatten, werden die Aktivitäten für Frieden und soziale Gerechtigkeit nie mehr in konventionelle nationale Politik zurückfallen.

Wer traditionelle Formen politischen Wirkens hinterfragt, der denkt unwillkürlich an die Proteste von Seattle 1999, als versucht wurde, einen Prozess geheimer Absprachen zwischen angeblich demokratisch gewählten Regierungen aufzuhalten. Das hatte seine Vorgeschichte in der Studenten- und Arbeiterbewegung, die 1968 auf den Straßen explodierte, und in der feministischen Bewegung, die in die Schlafzimmer, Arbeitsstätten und Gesellschaften der ganzen Welt eindrang. Aber der 15. Februar 2003 und das darauf folgende Verhalten des US-Imperiums führten zu einer breiteren Radikalisierung, als wir sie viele Jahre lang erlebt hatten.

Welche Rolle kann das Weltsozialforum dabei spielen, wenn es kein Führungsorgan und kein gesonderter Ort zur Machtausübung ist? Um die Rolle des WSF als Quelle für die verschiedenen Organisationen, die für eine andere Welt kämpfen, zu begreifen, hilft es zu verstehen, was die Bewegungen und Netzwerke, die sich in Porto Alegre und 2004 in Mumbai zusammengefunden haben, besonders charakterisiert. Ich will Merkmale betonen, die auf den sechziger und siebziger Jahre aufbauen und anzeigen, wie diese Bewegungen, wenn auch nur instinktiv, die Fehlschläge früherer linker politischer Projekte berücksichtigt haben - sei es der leninistischen, sei es der parlamentarischen Sorte.

In den vergangenen 30 Jahren hat eine Revolution im Denken gegen mechanische Modelle der Aktion und des Wissens stattgefunden. In solchen Modellen erschien die Gesellschaft als riesige Maschine, die vom Zentrum - dem Staat - aus gelenkt wird, und das Wissen, das der Politik zugrunde lag, war das Wissen um lineare Gesetze von Ursache und Wirkung. Das neue Denken über Wissen und Gesellschaft versteht die kreative, unvorhersehbare Rolle des menschlichen Agierens und die nicht-linearen, nicht-instrumentalen, sogar die nicht-rationalen Dimensionen. Die Politik im Allgemeinen wie auch des konventionellen linken Denkens im Besonderen - hat nur langsam zu dieser veränderten Methodologie gefunden.

Während kapitalistische Managementtheoretiker die Kreativität des Chaos zu schätzen wissen und Netzwerke nutzen, um praktisches Know-how zu übertragen und über das "Gold" in den Köpfen der Arbeiter sprechen, haben traditionelle linke Parteien lange so getan, als könnte Wissen zentralisiert und die Mitgliedschaft mit Instruktionen "angeleitet" werden. Die Basis wurde nicht als kreativ empfunden, sondern als "Unterstützer", als Wahlfutter oder - in einer weiteren militärischen Analogie - als in "Reih und Glied". Deshalb haben linke Regierungen eine riesige Quelle kreativer Macht nicht genutzt. Einsam an der Spitze stehend, sind sie zu schwach, um mit der extrapolitischen Macht und dem Insiderwissen von Oligarchie und Besitzbürgertum fertig zu werden.

Markenzeichen sowohl der neuen Bewegungen als auch der älteren, die von unten gewachsen sind, ist dagegen ein grundsätzliches Vertrauen in die Wichtigkeit praktischen, eingeborenen, persönlichen Wissens. Tatsächlich sind die horizontalen Netzwerke, in denen sich diese Bewegungen organisieren, die beste Art, dieses Wissen zu teilen. Diese egalitäre, dezentrale Kooperation führt zu einem größeren gemeinsamen Verständnis als jede Zusammenfassung verstreuten Wissens von oben herab. Menschen, die es ablehnen, einem System zu gehorchen, dessen Fortbestehen auf ihrer Komplizenschaft beruht, geben den neuen Bewegungen auch Vertrauen in die Macht organisierter individueller Rebellion. Das bedeutet, dass Menschen in sich selbst eine Macht zur Veränderung haben. Gewiss brauchen sie oft unterstützende, größere Netzwerke, um dieses Potenzial zu verwirklichen. Aber wer gelernt hat, dass man auch von ganz unten den Lauf der Welt beeinflussen kann, wird nicht mehr nach Politikern schreien, die für die Menschen handeln, oder nach einer Avantgardepartei, die den Weg zur Revolution ebnet.

Wie kann man nun das Wissen, das in Millionen Individuen steckt, verteilen und wieder zusammen führen? Wie kann man die potenzielle Macht in wirkliche verwandeln? E-Mails und Websites, alternative Presse, konzentrierte Netzwerkkampagnen, regelmäßige internationale Meetings, vom Zapatista-Treffen in Mexiko bis zum Weltsozialforum in Brasilien - all das sind Teile der Antwort. Dahinter steht das Prinzip einer tieferen, partizipativen Demokratie. Das bedeutet Transparenz, Vertrauen und Zeit für ausführliche Debatten. Es geht um die Einsicht, dass nicht immer Entscheidungen getroffen werden müssen und dass dann, wenn sie unabdingbar sind, die Suche nach einem Konsens der beste Weg ist.

Ein weiteres herausragendes Merkmal ist die Vielfalt der neueren sozialen Bewegungen. Die traditionelle Arbeiterbewegung neigte - zumindest in den Ländern des Nordens - zur Engstirnigkeit. Den Imperativ der Einheit aus der Sphäre des Arbeitskampfes hat sie immer wieder auf andere Dimensionen des Kampfes übertragen. Alles, was diese Einheit bedrohte, wurde oft, wenn auch nicht immer, verschmäht. Auch wenn diese Arroganz heute nicht mehr so verbreitet ist wie in früheren Jahrzehnten, weil die Verhandlungsmacht traditioneller Organisationen viel schwächer geworden ist - sich vom Paternalismus zu trennen, fällt manchen offenkundig schwer.

Die neuen Bewegungen dagegen sehen Vielfalt als Quelle der Macht. Sie können auf Unterdrückung und Widerstand in jeder Lebenssphäre reagieren - vom täglichen Überlebens bis zur Ausbeutung in den Betrieben. Einen Rahmen zu schaffen, in dem verschiedene Interessen koexistieren können, ist jedoch nicht leicht. Zwei Prinzipien sind dafür entscheidend: Erstens, das Prinzip der Autonomie. Nur wenn die Vielfalt der Standpunkte, der Netzwerke, der Foren gesichert ist, können freiwillige und damit mobilisierende Vereinbarungen getroffen werden. Dann kann auch die hitzige Debatte zu einer Arena der Kooperation werden. Das zweite zentrale Prinzip ist geteilte Verantwortung für einen Rahmen, der Vielfalt und Pluralismus möglich macht, ohne das Resultat zu kontrollieren.

Wenn es diese politische Kultur gibt, kann man mit Unsicherheiten und Experimenten umgehen. Vor zwei Jahren war das Weltsozialforum in Porto Alegre eine eindrucksvolle Illustration für die Kraft der Selbstorganisation. Instinktiv haben Tausende Verantwortung übernommen, um den Erfolg des Forums mit über 100.000 Teilnehmern zu ermöglichen. Sie waren dazu in der Lage, weil sie in ihren eigenen Organisationen die Tugenden egalitärer Kommunikation pflegen.

Das WSF ist lebenswichtig für eine globale politische Kultur, die eine öffentliche Debatte nicht nur als demokratischen Wert betrachtet, sondern auch als einzigen Weg, Wahrheiten zu finden und überzeugende Alternativen zu formulieren. Wie der Jazz von Charlie Parker und Miles Davis experimentiert das Forum mit neuen Klängen und Formen und fügt sich keiner formalen Harmonie. Von Porto Alegre geht eine Welle der Improvisation aus, deren Charakter niemand orchestrieren kann.

(Hilary Wainwright ist Herausgeberin des britischen Magazins Red Pepper und arbeitet am Transnationalen Institut Amsterdam. Letztes Buch: Reclaim the State. Experiments in Popular Democracy, Verso, London 2003)

 

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