Berichte
Chaos und Spaß in Caracas
Progressive Regierungen in Lateinamerika wecken Erwartungen
(von Andreas Behn. Caracas, Neues Deutschland)
Viel Streit und eine chaotische Organisation, aber auch viele
begeisterte Teilnehmer und konstruktive Debatten prägen das sechste
Weltsozialforum in Caracas, das noch bis Sonntag andauern wird.
Es ist beim Weltsozialforum in Caracas zu spüren, dass es das sechste
Treffen dieser Art ist: Viele Aktivisten kennen sich und etliche
Organisationen können schon auf einige Jahre Zusammenarbeit
zurückblicken. Schnell finden sie sich zusammen und knüpfen an die
Ergebnisse früherer Treffen an. Zugleich macht sich eine gewisse
»Forumsmüdigkeit« bemerkbar. Zu viele Veranstaltungen, immer die
gleichen Themen und Mammutveranstaltungen mit viel zu vielen langen
Reden, die wenig Inhalt und höchstens den Anblick von Berühmtheiten der
jeweiligen Bewegungen vermitteln \u2013 so der Tenor vieler Teilnehmer.
Jetzt wird auf mehreren Veranstaltungen die Frage aufgeworfen, in
welche Richtung sich das Welt-sozialforum (WSF) in Zukunft entwickeln
soll. Die einen befürworten, dass die Phase der endlosen Diskussionen
abgeschlossen werden müsse und es an der Zeit sei, konkrete
Alternativen zu erarbeiten und deren Umsetzung in den verschiedenen
Ländern voranzutreiben. Eine Position, die in der Präsenz von
politischen Parteien und auch Regierungen kein Manko, sondern eine
Chance zur Einflussnahme sieht.
Für andere bedeutet dies das Ende des WSF in seiner jetzigen Form. Sie
beharren auf den bisherigen Statuten und darauf, dass der Austausch der
sozialen Bewegungen untereinander nicht nur ein Mittel zum Zweck ist.
Wenig Verständnis gibt es für die unübersehbare Präsenz beispielsweise
der brasilianischen Regierung und natürlich der venezolanischen unter
Hugo Chávez. Wie bei den früheren Foren in Porto Alegre, wo die roten
Fahnen der brasilianischen Arbeiterpartei PT das Bild dominierten, ist
es hier das Konterfei von Chávez, das auf vielen T-Shirts der Helfer,
auf Plakaten, Transparenten und auch im Kopf der Leute ständig präsent
ist. Die Veranstalter wiederum sehen diese Frage pragmatisch: Keine
Veranstaltung dieser Größenordnung sei ohne die Hilfe der jeweiligen
Regierung zu bewerkstelligen und bei der polarisierten Stimmung, die in
Venezuela herrscht, sei es unvermeidlich, dass jede Plattform zur
Selbstdarstellung genutzt werde.
Für die Organisatoren des so genannten Alternativforums \u2013 eine
kleine Veranstaltungsreihe von Gruppen, die nicht Teil des WSF sein
wollen \u2013 ist dies keine überzeugende Erklärung. Sie halten das
Forum für eine militarisierte und von der Chávez-Regierung
unterwanderte Veranstaltung, die keine radikalen Positionen von
sozialen Bewegungen mehr zulasse.
Das viele Militär auf den Straßen rund um die Veranstaltungsorte, die
teilweise selbst Militäreinrichtungen sind, geht vielen der anwesenden
Aktivisten auf die Nerven. So könne keine gute Stimmung aufkommen,
zumal die im ganzen weitläufigen Stadtgebiet verteilten
Veranstaltungsorte verhindern, dass sich das von Porto Alegre gewohnte
Happening-Gefühl einstelle. Technische Probleme mit Computern und
Internet sowie ein recht unübersichtliches Programm sind weitere Gründe
für die nicht enthusiastische Stimmung in Caracas.
Besonders diejenigen, die zum internationalen Jugendcamp angereist
sind, hat es hart getroffen. Sie wurden auf zwei Camps verteilt, das
eine davon so weit außerhalb, dass kaum jemand dort bleiben wollte.
Unzufrieden waren sie auch mit der Versorgung mit Essen, die gut
organisierte Kooperativen übernommen hatten. Doch waren die Preise so
hoch, dass es die Jugendlichen vorzogen, selbst die Organisation in die
Hand zu nehmen. Gleichzeitig beklagen sich die Kooperativen über zu
wenig Kundschaft \u2013 von den erwarteten 30 000 Jugendlichen kamen
nur rund 4000.
Die Vielfalt der Themen, die auf den rund 2000 Workshops und
Veranstaltungen angeboten wurden, kann kaum breiter sein.
Internationale Themen wie der Protest in den USA gegen den IrakKrieg
oder die Situation in Nahost fanden ebenso Zulauf wie
Gewerkschaftsveranstaltungen, Allianzen gegen den Freihandel, die
Organisierung von Prostituierten, Aktivitäten der Schwarzenbewegung
oder Tourismusprojekte aus abgelegenen Gegenden im Amazonas.
Doch in vielen Veranstaltungen ging es auch immer um das, was derzeit
in Lateinamerika die politischen Gemüter bewegt: Die Wahl von immer
mehr linken oder zumindest nicht reaktionären Regierungen, zuletzt der
überraschend klare Wahlerfolg von Evo Morales und der MAS (Bewegung zum
Sozialismus) in Bolivien. Ein neues politisches Panorama, auf das auch
die sozialen Bewegungen des Kontinents reagieren müssen, und immer
wieder wird debattiert, was das im Einzelnen bedeuten kann: Weniger
Protest und mehr konstruktive Mitarbeit? Interne Debatten zur
Bestimmung des eigenen Standpunktes gegenüber einer neuen Regierung?
Oder hat sich in Wirklichkeit gar nichts geändert, wie es einige
Aktivisten aus Brasilien sehen, die von der PT-Regierung unter Lula
völlig enttäuscht sind?
In Caracas wird es hierzu noch keine eindeutigen Antworten geben, aber
es ist ein Anfang, der gerade neuen Akteuren die Chance gibt, alte
Kader und Denkweisen abzulösen. Doch derzeit herrscht unter
lateinamerikanischen Aktivisten oft nur Enthusiasmus vor: Mit Chávez,
Evo und auch Lula wird gegen die Bush-Regierung Front gemacht, nicht
als unscheinbare Bewegung, sondern mit der Macht von Staaten und
Regierungen. Fraglos eine neue Konstellation, aber nicht ohne Risiko,
sollte diese Allianz auf den peruanischen Präsidentschaftskandidaten
Humalla ausgeweitet werden, der sich in erster Linie durch
nationalistische Hetze gegen die Nachbarstaaten hervortut.
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